„Mehrere Zimmer [in Städels Haus] sind mit ausgesuchten Gemälden aller Schulen geschmückt, in vielen Schränken sind Handzeichnungen und Kupferstiche aufbewahrt, deren unübersehbare Anzahl, sowie ihr unschätzbarer Werth, den öfters wiederkehrenden Kunstfreund in Erstaunen versetzt.“
Johann Friedrich Städels Gemäldegalerie umfasste mindestens acht Räume. In seiner „Behausung“, wie er selbst sein stattliches Sammlungs-, Wohn- und Geschäftshaus am Frankfurter Rossmarkt 1812 ironisch bezeichnete, seien „… schon alle nur entbehrliche Zimmer von oben bis unten mit Malereien behängt“. In weiteren Zimmern hatte er Grafiken und Bücher aufbewahrt.
Städel präsentierte seine umfangreiche Sammlung von 476 Gemälden ausschließlich im Vorderhaus, 307 Werke in fünf Räumen des ersten Obergeschosses und weitere 118 Bilder in zwei Räumen des zweiten Obergeschosses. Im Erdgeschoss zeigte er 36 Werke in einem kleinen Salon. Darüber hinaus bewahrte Städel noch eine Anzahl von Gemälden separat auf. Dies war weit mehr als sonst üblich: Frankfurter Sammler des 18. Jahrhundert benötigten für ihre Gemälde im Allgemeinen einen, höchstens zwei Räume. Nur wenige wie die Familie Gogel hatten mehr Gemäldesäle eingerichtet. Gleich vier Zimmer ihres Hauses „Goldene Kette“ am Rossmarkt waren der Kunst vorbehalten.
Die Rekonstruktion von Städels Haus baut auf Vorüberlegungen von Corina Meyer auf (Meyer 2013). Die im Rahmen der „Zeitreise“ erstmals umgesetzte digitale Rekonstruktion des Hauses führt hier jedoch zu einer Reihe von neuen Erkenntnissen zum Grundriss und zur Raumdisposition.
Der Sammler wird den Galeriebesucher im Erdgeschoss empfangen haben und dann mit ihm die Treppe hinaufgeschritten sein. Durch eine große Flügeltür (eine „doppelt Thür auf dem Stiegen Botest“) betraten sie das erste Obergeschoss, die Hauptetage der Galerie. Nun standen sie im Vestibül, dem Empfangsraum. Von hier gelangte man in die drei wichtigsten, zum Rossmarkt gelegenen Säle. Aus dem „Zimmer zur Rechten“ gelangte man vermutlich zu einer Dienstbotenstiege und vielleicht auch in einen zusätzlichen, abgetrennten Funktionsraum.
Städels Gemäldeinventar, der auf Französisch verfasste sogenannte Catalogue des Tableaux, suggeriert einen Rundgang. Die Zählung beginnt im mittleren Saal zum Rossmarkt. Das sogenannte „Chambre du milieu“ war der repräsentativste Raum. An dieses Mittelzimmer schlossen sich rechts und links etwas kleinere Räume an, das „Zimmer zur Rechten“ („Chambre à droite“) und das „Zimmer zur Linken“ („Chambre à gauche“). Sodann führt das Inventar zurück in den Bereich, den es „Chambre de l’Alcove“ nennt. Er trennt sich in einen Empfangsraum und das Treppenhaus.
Das Inventar sah anschließend den Aufgang in das zweite Obergeschoss vor. Dort begann man mit der Besichtigung des „Chambre du milieu“, anschließend des „Zweiten Zimmers zur Rechten“ („Seconde Chambre à droite“). Ein weiterer Raum (links?) war ein Gesamtkunstwerk. Hier hatte Christian Georg Schütz alle Tapeten mit Landschaften und Architekturmotiven bemalt. Da für diese Räume Hängepläne fehlen, konnten sie im Rahmen der „Zeitreise“ nicht rekonstruiert werden.
Anschließend zeigte Städel seinen Besuchern noch einige Gemälde, die er separat unter anderem im „petit salon“ des Erdgeschosses bewahrte. Diesen Gemälden kam ein besonderer Stellenwert zu. Es waren für den Sammler bedeutende Stücke, darunter beispielsweise eine von Goethe gelobte Kopie von Correggios Zingarella, die Städel „encaissé“, also in einer Kassette aufbewahrte. Städel konnte die Gemälde gesondert hervorholen und damit in Szene setzen.
Heute ist nur noch jedes sechste Bild aus Städels Sammlung vorhanden. Städel selbst hatte in seinem Stiftungsbrief der zukünftigen Museumsleitung, der Administration, das Recht eingeräumt, weniger gute Kunst gegen bessere auszutauschen. Von dieser Möglichkeit wurde vor allem im frühen 19. Jahrhundert großzügig Gebrauch gemacht. Deshalb können wir heute viele der seinerzeit verkauften Werke nicht mit Sicherheit identifizieren. Von bislang immerhin 31 der 307 im ersten Obergeschoss ausgestellten Gemälde können wir dennoch stellvertretende Abbildungen zeigen, da es im Rahmen dieses Forschungsprojekts gelungen ist, sie in anderen Sammlungen zu identifizieren oder zumindest eine andere Fassung des Werkes zu bestimmen.
Dank des Inventarbuchs besitzen wir trotzdem eine gute Vorstellung der gesamten Ausstellung: Nach heutigen Maßstäben waren die Gemälde verschiedener geographischer und zeitlicher Herkunft sowie Bildthemen „bunt“ gemischt. Im repräsentativen Mittelzimmer waren sicher die Gemälde versammelt, die Städel besonders wichtig waren. Die rechts und links abgehenden Räume beherbergten schwerpunktmäßig Historienbilder und Porträts bzw. Genrebilder und Landschaften. Die Systematisierung der Hängung aller Schauwände durch Symmetrieachsen ermöglichte das Herstellen von Entsprechungen und Gegensätzen. Hierdurch forderte Johann Friedrich Städel seine Besucher zum gezielten Vergleichen heraus.
Johann Friedrich Städels Haus am Rossmarkt wurde um 1900 abgerissen. Deshalb bestand von ihm lange nur eine vage Vorstellung. Erst 2013 hat die Kunsthistorikerin Corina Meyer eine detaillierte Rekonstruktion vorgelegt. Durch die Auswertung von Bauakten, Auftragsbüchern, Bildquellen und eine genaue Analyse von Städels Inventar gelang es ihr, die Maße und die Aufteilung des Gebäudes zu präzisieren (Meyer 2013, S. 35-62). Die Erstellung des 3-D-Modells für dieses Projekt machte es notwendig, die von Meyer zusammengestellten Belege neu zu überdenken. Unsere alternativen Vorschläge betreffen vor allem die Architektur des hinteren Gebäudeteils.
Ein 1832 gezeichneter Grundriss zeigt, dass Städels Vorderhaus zum Rossmarkt zu diesem Zeitpunkt über zwei Anbauten verfügte: links einen Durchgang zum Hinterhaus, in dem Städels Privaträume untergebracht waren, rechts eine Galerie zu den 1818 neu errichteten Oberlichtsälen über den ehemaligen Lagerräumen der Großhandlung Städels. Für die Durchbrüche müssen Fensteröffnungen vergrößert worden sein, eine davon dürfte sich im Treppenhaus befunden haben. Corina Meyer hatte sich entschieden, das Treppenhaus im südwestlichen Gebäudeteil zu verorten. Ihr zufolge verlief es parallel zum Rossmarkt – ähnlich wie im zeitgenössischen Haus von Goethes Vater. Doch während das „Goethehaus“ eine offene Treppe besitzt, war die Treppe in Städels Haus nachweislich ein abgeschlossener Raum. Da ihm sonst aber eine Lichtquelle fehlen würde, kann sich das Treppenhaus eigentlich nur in ost-westlicher Richtung über (vermutlich) zwei Fensterachsen erstreckt haben.
Eine wichtige Quelle für die Rekonstruktion von Städels Haus ist das Inventar, das Johann Friedrich Städel in hohem Alter verfassen ließ. Der Schreiber war Johann Gottfried Jäger, der seit 1808 als „Handlungsdiener“ angestellt war. Aus Formulierungen wie „ich habe auch …“ geht hervor, dass die Aufzeichnungen entweder diktiert oder aus eigenen Notizen Städels kopiert worden sind. Das sorgfältig angelegte Buch war nicht für die Besucher bestimmt, sondern diente als kommentiertes Besitzverzeichnis. Mit Blick auf die Stiftung nach seinem Tod, welche Städel bereits 1793 zum ersten Mal testamentarisch festgelegt hatte, enthielt das Inventar das Wissen des Sammlers um seine Gemälde, die ausführenden Künster und die Bildinhalte.
Auf den schematischen Hängeplänen der drei zum Rossmarkt hin gelegenen Säle sind die drei Wände mit Gemälden nach außen in die Fläche „umgeklappt“, so dass man die Fensterseite einfach ergänzen kann. Der vierte Plan ist schwieriger zu interpretieren. Seine Überschrift „Chambre de l’Alcove“ suggeriert einen einzigen Raum, dessen Bezeichnung Alkoven auf einen (womöglich vor dem Umbau des Hauses durch Städel 1780–85 hier ehemal vorhandenen) Privatraum hindeutet. Die Nummerierung der hier ausgestellten Gemälde auf dem Hängeplan beginnt in der oberen Reihe rechts neben einer Tür („Entrée“), wodurch zugleich die Leserichtung vorgegeben ist.
Corina Meyer fiel auf, dass die Bilder durch vertikale Striche in 13 verschiedene Divisionen unterteilt werden. Gut erkennbar ist etwa der symmetrische Aufbau des Tableaus auf einer langen Wand oder die gedrängte Anordnung kleinformatiger Bilder über einer Leerstelle, vermutlich einem offenen Kamin. Meyer brachte diese so gekennzeichneten Gemäldegruppen in Verbindung mit Zwischenüberschriften in der nachfolgenden Gemäldeliste. Sie lassen – wie „Eingang ins Innere rechter Hand“ („Entrée dans l’interieur à maindroite“, Inventar der Sammlung Städel, S. 22, nach Inv. Nr. 233) – an zwei unterschiedliche Zimmer denken, einen Vorraum und einen inneren „Alkoven“.
Auch wir vermuten, dass Städel mit dem „Chambre de l’Alcove“ zwei Räume zusammengefasst hat, glauben allerdings, dass die beiden Reihen des Hängeplans jeweils einen Raum widerspiegeln. Mit der langen Wand und der vermuteten Kaminecke sind Eckpunkte für den zweiten Raum gegeben. Die Breite der letzte Division (Inv. Nr. 297-307) entspricht exakt den Maßen eines Wandstücks zwischen der Fensterseite und einer mittig angelegten Flügeltür „auf dem Stiegen Botest“. In der ersten Reihe des Hängeplans deuten wir die freien Flächen rechts und links der Gemäldetableaus als ein und dieselbe Öffnung, nämlich die jener Tür vom Treppenhaus zum größeren Eingangsraum. Mit der Annahme, dass Johann Friedrich Städel manche Gemälde bereits im Treppenhaus aufgestellt hat, begründet sich die vergleichsweise geringe Hängefläche in der ersten Reihe des Plans. Außerdem wird die Anordnung der beiden großen flämischen Tierstücke (Inv. Nr. 224 und 225) erklärlich. In einem größeren Saal hätte ihre Anordnung übereinander mehr als seltsam gewirkt. Für einen die Treppe emporschreitenden Besucher bildet ihr Anblick hingegen einen eindrucksvollen Auftakt.
Im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert war es üblich, die Bilder einer Sammlung gleichartig zu rahmen. Dies kennen wir etwa vom sächsischen Kurfürsten Friedrich August II. oder dem Frankfurter Konditormeister Johann Valentin Prehn (1749–1821), der eigenhändig Rahmen aus Zuckermasse (Tragant) anfertigte. Johann Friedrich Städel war offenbar ebenfalls darauf bedacht, seiner Gemäldesammlung durch die Rahmung ein einheitliches Gepräge zu geben.
Wir wissen nicht, wann die Rahmenleisten angefertigt worden sind, die auch heute zum Teil noch die Gemälde aus Städels Besitz rahmen. Sie sind nicht uniform, doch besitzen zahlreiche Rahmen mit ihrem Dekor aus Perlstäben oder einer reliefierten Schmuckleiste ähnliche Stilmerkmale. Diese lassen auf eine zeitnahe Herstellung, möglicherweise sogar in der gleichen Werkstatt, schließen.
Für die digitale Rekonstruktion von Städels Haus haben wir uns entschieden, alle Bilder mit einer einheitlichen und erkennbar fiktiven Rahmung zu versehen.